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Scholz als Gesundbeter? - Wie der Kanzler mit der Wirtschaft ringt

29.04.2024
um 07:47 Uhr

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Als Kanzler Olaf Scholz beim Familienunternehmertag am Donnerstag in Wiesbaden auftrat, standen alle Anzeichen auf Krawall.

Denn der Verband gehört zu den schärfsten Kritikern der Ampel-Regierung. Er hatte ihr vorgeworfen, dass die Wettbewerbsfähigkeit in ihrer Regierungszeit abgesackt sei. Schon einige Tage zuvor hatte BDI-Präsident Siegfried Russwurm den SPD-Politiker und die Ampel abgewatscht und von "zwei verlorenen Jahren" für Deutschland gesprochen. Aber in Wiesbaden erntete der SPD-Politiker am Ende seines fast einstündigen Auftritts dann deutlichen Applaus. Nachdem Scholz unter anderem eine Lanze für den Bürokratieabbau gebrochen hatte, stilisierte ihn Verbandschefin Marie-Christine Ostermann sogar zum Schutzschild gegen den grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Nachdem die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr um 0,3 Prozent geschrumpft ist und laut IWF-Prognose im laufenden Jahr nur um 0,2 Prozent zulegen dürfte, ist wenig verwunderlich, dass gerade Unternehmensverbände die Ampel und Scholz sehr kritisch sehen. Während Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister Christian Lindner (FDP) bereits Anfang des Jahres ein Programm zur Ankurbelung der Wirtschaft gefordert hatten, vermittelte Scholz lange den Eindruck, alles sei in Ordnung. "Er wirkt wie ein Gesundbeter", stichelte damals ein Kabinettsmitglied. CDU-Chef und Oppositionsführer Friedrich Merz orakelte, Deutschland stehe vor dem wirtschaftlichen Absturz.

Doch Scholz hat seine Tonlage in den vergangenen Tagen deutlich geändert. Er räumt mittlerweile ein, dass die Lage tatsächlich schwierig sei. Nachdem sich die SPD eine "moderne Angebotspolitik" auf die Fahnen geschrieben hat, erwähnt auch Scholz diesen Begriff in jeder Rede. Nötig seien bezahlbare, sichere und nachhaltige Energie, Investitionen in Infrastruktur und neue Technologien und gut ausgebildete Fachkräfte, sagte er vor den Familienunternehmern. Weil er wegen des Finanzstreits in der Ampel wenig Spielraum hat, erklärt Scholz nun Bürokratie zum Hauptproblem - und macht dafür vor allem die EU verantwortlich. Er deutete sogar ein Abspecken vom Bund beschlossener Vorschriften zu Lieferketten und Nachhaltigkeitsberichten an. "Ehrlicherweise - bei manchen frage ich mich auch: Wer liest das denn eigentlich und was folgt aus diesem Bericht?", sagte er. Das kam bei den Familienunternehmern gut an.

CHEFVERKÄUFER DES WIRTSCHAFTSSTANDORTS

Allerdings sieht sich der Kanzler immer noch als obersten Standortverkäufer - frei nach Ludwig Erhards Mantra, dass Wirtschaft zur Hälfte Psychologie sei. "Lassen Sie uns den Wirtschaftsstandort Deutschland stark machen und nicht schlecht reden", sprach Scholz BDI-Chef Russwurm bei der Eröffnung der Hannover-Messe an. Unter der Ampelkoalition habe Deutschland nicht zwei Jahre verloren, sondern zwei Jahre des "Turnarounds" zurückgelegt. Krisen seien bewältigt und früher verschleppte Reformen angestoßen worden. Scholz weiß mittlerweile etliche Unternehmenschefs und Verbandsvertreter hinter sich, denen Russwurms Kritik ebenfalls zu weit ging. Ein BDI-Chef solle Probleme ansprechen, aber den Standort nicht heruntermachen, bemängelte ein Konzernchef vor wenigen Tagen im Hintergrund.

Aus Scholz' Sicht unterschlagen seine Kritiker einige Punkte. In Reden nennt er Branchen wie die Chemie, in denen die Produktionszahlen wieder stiegen. Er verweist auf wachsende Kaufkraft, Rekordbeschäftigung, sinkende Strompreise, die erwartete Zinssenkung oder die steigende Zahl an Hypothekenkrediten. Und der Kanzler eilt von Grundsteinlegung zu Grundsteinlegung bei großen Investitionsvorhaben in der Pharma-, Halbleiter- oder Batterieindustrie, um zu demonstrieren, dass der Standort eben doch sehr begehrt sei. Am Samstag betonte er, dass zudem das Investitionsniveau der Bundesregierung auf einem Rekordhoch liege. Und hinter dem Kapitalabfluss stünden in Wahrheit hohe Investitionen deutscher Firmen im Ausland - was ein Zeichen der Stärke sei. Ihn ärgert, wenn Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing auf dem Bankentag von einem Großinvestor berichtet, der von 200 Milliarden Euro 185 Milliarden in den USA investiere - ohne zu erwähnen, dass dahinter auch umstrittene Subventionen der US-Regierung steckten, die sich verschulde, um Firmen anzulocken.

Ob dies die Ampel-Kritiker in der Wirtschaft befriedet, ist allerdings fraglich: Denn Ökonomen wie Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) verweisen auf die insgesamt niedrigen ausländischen Investitionen in Deutschland. Das liegt auch an dem bisher geringen Vertrauen in den erfolgreichen Umbau in eine klimaneutrale Wasserstoff-Wirtschaft. Scholz bleibt zudem Kanzler einer sehr heterogenen Koalition. Finanzminister Lindner bezeichnete auf dem FDP-Parteitag Deutschland gerade wieder als Sanierungsfall. Und auf dem Familienunternehmertag bekam Scholz mit dem ungewohnten Applaus eine nahezu unlösbare Aufgabe mit auf dem Weg. "Wir haben jetzt Führung bestellt. Machen Sie die Wirtschaftspolitik zur Chefsache", rief ihm Verbandspräsidentin Ostermann zu.

(Bericht von Andreas Rinke; redigiert von Jörn Poltz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)